[av_dropcap1]A [/av_dropcap1]nna Senft, 30, ist angehende Lektorin und lebt in Pune (Indien) und Berlin. Sie studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Würzburg. Von 2009-2015 arbeitete sie als wiss. Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität Berlin. Letzte Stationen waren das internationale literaturfestival berlin, die Buchhandlung Mauerbuch, das International Literature Festival Jaipur und The Seagull School of Publishing in Kalkutta.

Hier berichtet sie von ihrem dreimonatigen Kurs bei Seagull Books in Kalkutta.

[av_dropcap1]I[/av_dropcap1]n der S.P. Mukherjee Road in Kalkutta schlägt das literarische Herz dieser Stadt. Der Verlag und Buchladen Seagull Books ist eine Oase inmitten des indisch-urbanen Chaos’. Kunstvoll ist alles, was von diesem Verlag in die Welt entlassen wird. Das sind in erster Linie Bücher über Theater, Bildende Künste, alternatives Kino, Philosophie, Kultur und auch Belletristik, die als eigene Kunstwerke gelten können, so schön sind sie gestaltet, gesetzt und gedruckt.

 

Eine kurze und intensive Ausbildung für angehende Lektoren und Buchdesigner

 

[av_dropcap1]W[/av_dropcap1]ie das Handwerk des Büchermachens in Kalkutta seit 1982 von Verleger Naveen Kishore und seinem fünfköpfigen Team verstanden wird, durfte ich in einem dreimonatigen Kurs erleben. Mit der kurz nach Gründung des Verlages entstandenen Initiative The Seagull Foundation for the Arts unterstützt und fördert Kishore die schönen Künste, Theater und Film in Indien mit dem Selbstverständnis eines Mäzens und Verlegers alter Schule. Aus der Kollaboration dieser Initiative und der Königlich Norwegischen Botschaft ist 2012 die Seagull School of Publishing entstanden, die eine kurze und intensive Ausbildung für angehende Lektoren und Buchdesigner ermöglicht. In zwei Zeiträumen pro Jahr – Januar bis März und Juni bis August – kann man die Kunst des Verlegens von der Pike auf lernen, und das bei einem unabhängigen Verlag, der durch Sitze in London und New York seit 2005 seine Bücher weltweit vertreibt.

 

Meine Mitschülerinnen Tanvee, Sonaksha, Saumi und Sarah (v. li. n. re.) © Anna Senft

Meine Mitschülerinnen Tanvee, Sonaksha, Saumi und Sarah (v. li. n. re.) © Anna Senft

 

Mit 18 anderen Studierenden begab ich mich im Juni auf die Reise durch die Gefilde des Verlegens, angefangen von der Idee zu einem Buch, den oft schwierigen Weg zu einem Verlagshaus, das Aufsetzen eines Vertrages, die Bearbeitung des Manuskriptes, Inhalts- und Covergestaltung, bis hin zu Vertrieb und dem Veräußern der Rechte. Wie bildet man eine Liste, wie pflegt man die Backlist, wie verwaltet und was lernt man aus Gewinn- und Verlust-Tabellen?

 

Ein Ergebnis aus Zufällen und Freundschaften

 

[av_dropcap1]N[/av_dropcap1]ach eineinhalb Wochen gemeinsamen Unterrichts fokussierte sich meine Editing-Gruppe auf die Bearbeitung der Manuskripte. Die Designer lernten den Umgang mit Quarkexpress und Photoshop, während wir uns die längst begrabenen Regeln zu Zeichensetzung, Grammatik und Rechtschreibung in Erinnerung riefen – alles natürlich auf Englisch. Das brüten über fehlerhaften akademischen Texten zur zeitgenössischen Kunst in China machte viel Spaß, weniger dagegen die trockene Theorie der Bibliographie- und Indexerstellung. Ende Juni schließlich fand die erste „Masterclass“ mit Verleger Naveen Kishore selbst statt, der uns anhand seiner eigenen Geschichte in die Geheimnisse des Verlegens eingeweihte. So geheimnisvoll oder schwierig, wie wir es uns vorstellten, ist es aus seiner Sicht gar nicht; vielmehr ein Ergebnis aus Zufällen und Freundschaften, aus der das Projekt Seagull Books entstanden ist.

 

„Ich bin ein großer Briefschreiber und glaube fest an die Wichtigkeit der persönlichen Beziehung zwischen Verleger und Autor“

 

[av_dropcap1]V[/av_dropcap1]om Theater kommend fing Naveen einfach irgendwann an Dramen und theoretische Texte zu Kunst und Kultur mit finanzieller Unterstützung beispielsweise des Goethe Instituts zu veröffentlichen und gründete zu diesem Zweck einen eigenen Verlag. Das war in den Siebzigern. Gleich zu Beginn besuchte er regelmäßig die Frankfurter Buchmesse, um deutschen Verlagen die Rechte für den Indischen Markt abzunehmen – um sie zu kaufen hatte er kein Geld. So entstand die intensive und langjährige Freundschaft zu Verlagen wie Suhrkamp und dem französischen Verlagshaus Gallimard. Die eindrucksvolle German List mit Namen wie Jurek Becker, Hans Magnus Enzensberger und Sibylle Lewitscharoff bezeugt diese fruchtbare Verbindung. Vielleicht ist das ein Geheimnis oder Erfolgsrezept für beide, Verleger und Autoren: die enge, freundschaftliche Beziehung, die Naveen zu seinen „Schützlingen“ führt. „Ich bin ein großer Briefschreiber und glaube fest an die Wichtigkeit der persönlichen Beziehung zwischen Verleger und Autor“ so Kishore. Auszüge dieser Korrespondenzen sind in dem prachtvoll gestalteten Katalog zu finden, der jährlich anlässlich der Frankfurter Buchmesse aufwendig hergestellt wird. Dieses „Buch der Bücher“ ist so einzigartig in der Verlagswelt, dass es ein Aushängeschild des besonderen Kunstverständnisses dieses Verlages ist und ihm zu Weltruhm verholfen hat. Wie Kostbarkeiten werden sie innerhalb der Verlagsszene bewundert und herumgezeigt und inzwischen finden sich in jedem gut sortierten Buchladen in allen Teilen der Welt die Bücher aus Kalkutta.

 

Titel aus der German List mit Gartenzwerg © Anna Senft

Titel aus der German List mit Gartenzwerg © Anna Senft

 

Der Erfolg, auch der wirtschaftliche, kam mit der Zeit.

 

[av_dropcap1]N[/av_dropcap1]ach seinem Vorgehen bei der Auswahl der Autoren, des Zusammenstellens einer Liste und des Zielpublikums gefragt, antwortet Naveen: „Ich bin das Zielpublikum“. Seagull ist ein sehr unkapitalistisch denkender Verlag, der Bücher verlegt, von denen sie persönlich der Meinung sind, sie sollten gelesen werden. Der Erfolg, auch der wirtschaftliche, kam mit der Zeit. Literaturnobelpreisträger Mo Yan fand seinen Platz zunächst bei Seagull Books, bevor der Rest der Welt auf ihn aufmerksam wurde.

Weiter ging es im Juli mit Übungen, bei denen wir alles Gelernte mit den richtigen Korrekturzeichen und dem Oxford Manual of Style neben uns liegend anwenden konnten – und das an Texten, die vom Verlag selbst verlegt wurden. Unterrichtet wurde meine Editing Klasse hauptsächlich von Lektor Bishan Samaddar.  Wie jeder Mitarbeiter von Seagull Books, hat auch Bishan eine künstlerische Seele und seine Fotographien wurden bereits ausgestellt, mit Texten von Roland Barthes veröffentlicht oder als Grundlage von Sunandini Banerjees Cover Designs verwendet. Sunandini ist beides, Senior Editor und Senior Graphic Designer und entführte hauptsächlich die Design Klasse in die wunderbare Welt des Buchdesign und Typesetting. Sie illustriert Bücher, gestaltet den Katalog und ist mit ihrem collagenartigen Stil eine Quelle der Inspiration und eine Botschafterin der Buchkunst.

 

Nächste Woche erscheint an dieser Stelle Part 2 von Anna Senfts Bericht aus Kalkuttas Bücherschmiede Seagull Books.

 

 

Weitere Infos über das Verlagsprogramm, die Aktivitäten des Seagull Universums und den School-Blog mit Beiträgen anderer Studierender findet ihr auf folgenden Seiten:

 

https://www.seagullbooks.org/

https://www.seagullindia.com/

https://theseagullschool.wordpress.com/