Wie Verena Güntner die Gedanken eines Sechzehnjährigen ausspricht
Wenn die Autoren lesen, verwandeln sie sich alle irgendwie in ihre Figuren. Der eine mehr, der andere weniger. Der Verwandlungstrank ist die Stimme – im Text und als Schallwelle. Das Besondere an der Lesung von Verena Güntner ist, wie meilenweit Rolle und Autor voneinander entfernt zu sein scheinen. Eine junge Frau wird zu einem sechzehnjährigen Jungen. Verena Güntner mit den naturbraunen Mädchenlocken sitzt im seriösen Schwarzen hinter dem weißen Rednertisch. Gelegentliches Zucken oder Ballen der rechten Hand verrät, dass sie als Schauspielerin normalerweise bei diesem Spiel mehr Register zieht. Ihre Stimme gehört ganz der Figur, bemüht sich, auf der Suche nach Männlichkeit in tiefe Enden zu sinken und durch möglichst wenig Pausen, abgeklärt und cool zu wirken. Die Stimme spricht Worte, die in den Gedanken eines erst sechzehn- dann zwölfjährigen Jungen kreisen. In ihrem Auszug aus dem Roman „Es bringen“ geht es um Höhenangst und die erste Erfahrung von Zärtlichkeit, um Körperlichkeit, die Konkurrenzerfahrung mit der Affäre der Mutter. Kurz: um das Erwachsenwerden eines vielleicht verwahrlosten, aber hochsensiblen Jungen.
Die Jury ist sich einig: Die Stimme des Jungen hat Güntner perfekt sprachlich eingefangen. Das durchzuhalten war die Hürde, die Verena Güntner mit Bravour genommen habe. Auch wenn es Burkhardt Spinnen hier und da zu „süffig“ ist.
Am Ende entzweit sich die Jury professionell an der Frage: Braucht ein Text, der ein Thema so handwerklich perfekt koloriert, keine tieferliegende Wahrheit? Besonders, wenn das Thema kein neues ist? Meike Feßmann formuliert es so: „Die ,Stimme‘ stimmt, aber die Stimme der Autorin, die höre ich nicht.“ Die Jury-Besprechung endet mit diesem Satz, das Nachdenken über die „Stimme des Autors“ müsste hier aber erst beginnen.
Kristina Petzold