Von Larissa Hellmund

Über den Bildschirm zieht sich ein Kreis, dann eine halbe Raute, blitzschnell gefolgt von einigen weiteren Strichen und plötzlich schaut uns Teilnehmer*innen des Webinars „Character Designs – Inspiration durch Tiere“ eine Frau an, deren Physiognomie trotz aller Abstraktheit auf verblüffende Art und Weise haargenau der einer Schildkröte entnommen worden zu sein scheint.

„Drei Striche und man erkennt sofort was gemeint ist“, kommentiert jemand fassungslos im Chat – und der Rest von uns nickt mit großen Augen zustimmend in die Webcam.

Es ist Samstagnachmittag und hinter uns liegen bereits einige Stunden Mitgliederversammlung, eine Hafenrundfahrt und ein Motivationstalk zum Thema „Rock your life“ – alles digital wohlgemerkt. Man hätte meinen können, dass Orga-Team aus Hamburg habe damit bereits alles aufgefahren, was sich im Rahmen einer digitalen Jahreshauptversammlung überhaupt realisieren lässt. Aber das Webinar zum Zeichnen eigener Charaktere setzt dem Ganzen noch ein unerwartet kreatives Sahnehäubchen auf bzw. – um dem Hamburger Slang der diesjährigen Veranstaltung treu zu bleiben – garniert das ohnehin schon schmackhafte Franzbrötchen an JVM-Jahresversammlung zusätzlich mit gerösteten Kürbiskernen, die es vom einfachen Plundergebäck zu einer wahren Delikatesse erheben.

So falle ich an diesem besagten Nachmittag auch nicht in ein Mittagstief, sondern vor Begeisterung nahezu in eine kleine Sinnkrise, in der ich mich kurzzeitig frage, ob ich meine Berufung vielleicht verfehlt habe: Sicher, dass ich mit Worten und nicht mit Bildern arbeiten will? Kann man von freier Lektorin noch auf Illustratorin umsatteln?

Neben mir liegen beinahe unangerührt Zeichenblock und Stift. Vielleicht doch keine so gute Idee…

Bis zum Kreis für das Gesicht und der halben Raute für das Kinn habe ich es noch geschafft. Dann aber hat mich das, was Simone Grünewald da live am Bildschirm für uns in atemberaubender Geschwindigkeit kreiert hat, einfach zu sehr für sich eingenommen.

Dabei ist es gar nicht das Ziel der sympathischen Illustratorin gewesen, uns abzuhängen – im Gegenteil: Schritt für Schritt erklärt sie uns in klar verständlichen Sätzen, was genau sie tut und worauf wir achten müssen. So pragmatisch ist ihre Vorgehensweise dabei, dass sie ihr eigenes Talent regelrecht unter den Scheffel stellt: „Ich zeichne einfach gerne. Und viel.“

Gerne würde ich mich diesem Gedanken hingeben: Dass Simones Kunst tatsächlich grundsätzlich nachahmbar ist. Aber so nahbar und hingebungsvoll sie uns auch über die ganze Bandbreite an Tipps und Tricks aufklärt und darüber den Effekt ihrer eigenen Werke für uns zu entzaubern versucht – de facto gelingt es ihr nicht. Ich starre wie gebannt auf den Bildschirm und kann kaum glauben, mit welcher Leichtigkeit und Schnelligkeit es der Designerin gelingt, Charaktere zu zeichnen, deren Persönlichkeit so lebendig erscheint, dass sie jeden Moment aus dem Display springen könnten.

Irgendwann zwischendurch fragt Simone dann nach der Uhrzeit. Das Webinar ende in fünf Minuten, stellt jemand aus der Runde verdutzt fest. Wie bitte? Ich bin nicht minder überrascht. „Ich könnte dir noch stundenlang weiterzusehen“, heißt es dann auch von den anderen, „Das war besser als jede Meditation“ und „Einfach nur bewundernswert“. Das trifft es ziemlich gut.

Ich ergänze außerdem noch „Unglaublich inspirierend!“: Denn genau so, wie Simone Grünewald in 1,5 Stunden demonstriert hat, wie man gezeichneten Figuren Leben einhaucht, hat sie uns, der kleinen Truppe an jungen Verlags- und Medienmenschen, dabei auch gezeigt, mit viel Leben und Leidenschaft man den eigenen Beruf ausfüllen kann.