Den Auftakt am zweiten Tag der Lesungen machte ein Text, der eindeutig aus dem Bachmann-Raster fällt. Ein experimentelles Stück Literatur über die Krankheit der Großstadt von Anne-Kathrin Heier mit dem Titel „Ichthys“. Das Urteil der Jury war jedoch zweigeteilt: zwischen Avantgarde (Spinnen) und dem Verdikt, überhaupt keine Literatur zu sein (Keller).

Birgit Pölzls Hauptfigur versuchte sich in Trauerarbeit durch die Flucht in die tibetanische Gebirgswelt. In „Maia“ ist es eine Suche nach regenerativen Energien, in der Natur ebenso wie in einer fernen Kultur. Die Jury konnte diesem meditativen Text nur bedingt etwas abgewinnen.

Über das Muster einer Facebook-Konversation erzählte Senthuran Varatharajah in „Vor der Zunahme der Zeichen“ die Verbindung zweier Flüchtlingskinder, die sich gegenseitig ein Stück ihrer Herkunftsgeschichte erzählen und dabei die Frage nach ihrer Identität stellen. Anders als in der vielbeachteten Eröffnungsrede von Maja Haderlap zum Thema Zweisprachigkeit und Sprachbiographie, geht es bei Varatharajah um die Entdeckung der eigenen Familie. Die Jury sah noch ungenutztes Potenzial in der Form des Chatdialogs. Der Text, der mit einem hohen intellektuellen Anspruch antrat, beeindruckte dennoch die Kritiker.

Michael Fehrs Spoken Script-Vortrag „Simeliberg“ basierte auf der akustischen Realisation seines Textes und löste in der Jury eine Grundsatzdebatte aus. Nicht zuletzt durch eine komplexe und völlig andere Genese der Textproduktion – vom Diktat in die aufgezeichnete Fixierung und wieder in den mündlichen Vortrag. Zukünftig müssen sich die Jurymitglieder darüber einigen, wie sie mit derartigen Literaturformen umgehen wollen.

Den Zwiespalt trug die Jury weiter in die Diskussion über die Geschichte „Ignis Cool“ von Romana Ganzoni. Deren Hauptfigur Bruna will mit ihrem alten Auto einen Pass überqueren als ihr das Benzin ausgeht. In Rückblenden blickt Bruna auf ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrer Mutter. Während die eine Hälfte der Kritiker darin „eine abgründige Mutter-Tochter-Geschichte“ sah (Feßmann), die „schriftlich fixiert funktioniert“ (Keller), konnte sich Juryvorsitzender Burkhard Spinnen nicht für den Vortrag der Autorin erwärmen, die ihre eigene Figur „kaputt gelesen“ habe.

Von  Lisa-Marie George und Katharina Graef