„Man wird mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten konfrontiert, wenn man übersetzt. Dabei öffnen sich neue Begriffsfelder,“ so der Lyriker Jan Wagner. Wagner sitzt neben Odile Kennel, ebenfalls Lyrikerin und Übersetzerin, auf dem Podium des Übersetzerzentrums für die Veranstaltung ‚Doppelgeherrede: Annäherungen an das Übersetzen von Gedichten‘.

 

Dass Unmöglichkeiten doch möglich werden können, wird in der Veranstaltung deutlich, vor allem wenn die Lyriker_innen Übersetzungen vorlesen, die sie selbst angefertigt haben. Bei Kennel sind das unter anderem Übersetzungen von Anagramm-Gedichten der brasilianischen Lyrikerin Érica Zíngano, in denen jeder Vers ein Anagramm ist, das sich der Buchstaben des ersten Verses bedient. Kennel musste sich entscheiden, ob sie den Inhalt der Gedichte übertragen oder das Formalistische wiedergeben wollte und löste das Problem, in dem sie jeweils zwei Übersetzungen von jedem Gedicht anfertigte und diese nebeneinander herausgab.

 

Wagner wiederum liest eine Übersetzung von Ted Hughes. „Hughes‘ Gedichte haben eine unglaubliche Energie“, erklärt Wagner. „Er hat sie einmal mit Tieren verglichen. Das Ziel bei der Übersetzung war es, diesen Energiestrom zu behalten, sie nicht durch irgendwelche Umstände zu verhindern. Da alles natürlich länger wird, wenn man es vom Englischen ins Deutsche überträgt, musste ich teilweise Sachen kürzen.“

„Dabei werden owl und eel aus dem Original zu Eul‘ und Aal“, kommentiert Kennel dazu. „Das sind solche schönen Fälle, wenn die Sprache quasi für einen arbeitet.“ Bei der Frage, wieso sie, als Lyriker_innen, übersetzen, gingen die Antworten der beiden auseinander: „Ich war immer zwischen den Sprachen,“ erklärt Kennel, die deutsch-französisch aufgewachsen ist. „Ich habe immer übersetzt, aber ich hätte nie daran gedacht, dass ich das veröffentlichen könnte. Dann hatte ich meine erste Übersetzungsarbeit, einen Auftrag von der Literaturwerkstatt Berlin. Ich weiß noch genau, damals hatte ich einen Kachelofen neben dem Bett. Ich saß auf dem Bett, neben dem Kachelofen, und übersetzte. Es war wirklich wie ein Rausch. Und ich dachte – ich will mehr davon.“

 

Für Wagner, der hauptsächlich aus dem Englischen übersetzt, geht es darum, dass man „wahnsinnig viel lernt, wenn man übersetzt. Man lernt über die Verfahren der anderen Sprachen und die Verfahren des anderen Lyrikers. Aber man lernt auch viel darüber, wie die eigene Sprache funktioniert.“ Außerdem, fügt er mit einem Lachen dazu, „ist es sehr schön, den Freunden ein Buch in die Hand drücken zu können und zu sagen, ‚lies doch mal Ted Hughes.‘“

 

Dabei streift er einen häufigen Vorwurf, der vor allem mit der Übersetzung von Lyrik assoziiert wird: ob eine Übersetzung überhaupt eine Übertragung des Originals sein kann, oder ob sie nicht viel mehr die eigene Interpretation des Textes weitergibt. Heißt es, „lies doch mal Ted Hughes“, oder „lies ihn so wie ich ihn lese“? Übersetzungen, erklärt Kennel, sind irgendwie immer der Autor_in entfremdet. „Auch die Übersetzung ist ein Original, keine bloße Reproduktion.“

 

Wagner stimmt zu: Wenn er Übersetzungen der eigenen Gedichte liest oder hört, erscheinen sie ihm vor allem als Echos. Trotzdem beschreibt er das Ideal des Übersetzens: „Als Übersetzer sollte man so weit es geht verschwinden hinter dem Dichter, dem man zeitweise dient. Es ist wunderbar, wenn der eigene Schreibstil nicht im Gedicht rauszuhören ist. Die eigene Poetik sollte beim Übersetzen in den Hintergrund rücken.“

 

Klingt plausibel. Doch Kennel wendet ein: „Ist das überhaupt möglich? Wenn du nicht mehr als ‚ich‘ schreibst, kannst du doch nicht mehr schreiben.“

 

Marisa Rohrbeck