von Tanja Steinlechner

Die Eröffnung

Auch für den Schreibhain ist es beinahe schon Tradition geworden: Die Leipziger Buchmesse beginnen wir mit der Eröffnung im Gewandhaus, wo am 20. März 2019 der diesjährige Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung an die Schriftstellerin und Journalistin Masha Gessen für ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor.“ verliehen wird. Übersetzt wurde das Werk, das Gessen selbst als faktografischen Roman bezeichnet, aus dem Englischen von Anselm Bühling. Um vier Biografien junger russischer Menschen, die in die Mühlen gesellschaftlicher Rückwärtsbewegungen der Putin Ära und ihrer Restriktionen geraten, kreist der Roman. Er dokumentiert und erzählt gleichermaßen von der aufkeimenden Hoffnung auf demokratische Entwicklungen in den neunziger Jahren und deren Zersetzung in der postsowjetischen Gesellschaft.

Zwischen den Ansprachen, die abwechselnd ein Zusammenrücken der Buchbranche in Zeiten der KNV- Insolvenz konstatieren, auf die Bedeutung der Reform des Urheberrechtsgesetzes zu sprechen kommen oder auf die anstehenden Europawahlen und deren Einfluss auf die Demokratie abzielen, spielt das Gewandhausorchester und erinnert u.a. mit Kompositionen von Antonín Leopold Dvořák und Bedřich Smetana an Tschechien, das diesjährige Gastland der Leipziger Buchmesse.

Nach dem Festakt gibt es nicht nur den obligatorischen Sekt und das Gläschen-Buffet (wir nennen es so, weil die Häppchen in kleinen Gläsern serviert werden), sondern auch erste Wiedersehen mit liebgewonnenen Kolleginnen und Kollegen. In die Moritz Bastei zur Langen Lesenacht schaffen wir es nicht mehr. Wir spazieren unter einem vollen Mond und bei milden Frühlingstemperaturen in Richtung unseres Appartements.

Lesungen

Der Messedonnerstag entpuppt sich als Möglichkeit kleine Lesungseindrücke live von der Messe zu gewinnen: Ich lausche Jan Drees, der Auszüge aus seinem Roman „Sandbergs Liebe“ präsentiert und darüber spricht, wie Fiktion und Biografie in seinem Werk zur Autofiktion verschmelzen, sich sein Protagonist mehr und mehr in eine Beziehung mit einer Narzisstin und Borderlinerin verstrickt und welche Spuren traumatische Gewalterfahrungen in Partnerschaften hinterlassen. Sowohl auf der Ebene des Textes als auch im Gespräch gelingt Drees jenes Meisterstück, das den Sog der Literatur ausmacht: Er bannt seine Leserinnen und Leser, zieht sie so in seine Erzählwelt.

Noch am selben Tag eine zweite Überraschung: Julya Rabinowich, deren Erzählkraft und Sprache ich seit ihrem Roman „Krötenliebe“ verfallen bin, erlebe ich das erste Mal live – und zwar mit ihrem Jugendstoff „Hinter Glas“, jüngst erschienen bei HanserNicht nur ist Rabinowich eine sympathische, humorvolle und weltoffene Gesprächspartnerin auf dem Podium, auch wagt sie sich an Themen, die nicht typisch fürs Jugendbuch sind, ohne beschönigen zu wollen oder die Angst, ihrem Publikum durch die Gewalterfahrungen ihrer Heldin zuviel zuzumuten. Vielleicht entwickelt sich gerade aus dieser Schonungslosigkeit und Aufrichtigkeit heraus, der starke Wunsch, der Geschichte ihrer Protagonistin folgen zu wollen. Nicht ohne Grund hat Rabinowich ihrer Heldin den Namen Alice mit auf den Weg gegeben. Alice hinter den Spiegeln, Alice, die uns mitzieht in ihre Welt. Ob Rabinowich nun für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene schreibt, hier – und das spürt man in jedem Satz, der einen weiter vorantreibt – ist eine der ganz großen Erzählerinnen unserer Zeit am Werk.

Eigentlich hatten wir uns für den Abend die Lesung unseres wundervollen Kollegen Tobias Quast vorgenommen. Da der „besten Susanne der Welt“ (Kolleginnen wissen von wem ich spreche) gesundheitlich nicht ganz wohl war, planten wir kurzerhand um. Nur wenige Meter von unserem Appartement entfernt, las Patricia Holland Moritz im Flowerpower aus ihrem im März 2019 erschienenen Krimi „Der Menschenleser“. Wussten wir zuvor noch nicht, was es mit dem Ausdruck geflowerpowert auf sich haben sollte, nach diesem Abend waren wir endlich im Bilde. Hier stimmte einfach alles, Francis Mohrunterhielt uns mit Anekdoten über Geschenkekalender und die wahren Verdienste der Messestadt Leipzig, der Veranstalter hieß uns in der Welt seines „Flowerpower“ willkommen und klärte uns auf, dass es in seinem Etablissement auch morgens um sechs Uhr noch ein Getränk gäbe. Schließlich gelang es Patricia Holland-Moritz nicht nur den ersten Profiler Deutschlands, ihren Menschenleser und Forensiker Paul Semper, lebendig werden zu lassen, sondern ließ uns darüber hinaus in die ebenso dichte wie bedrückende Atmosphäre einer Kleinfamilie eintauchen, über die ein Mord hereinbricht. Einen gelungeneren Abschluss des ersten Messetages hätten wir uns kaum vorstellen können.

Buchmesseparty und Leipziger Autorenrunde

Am Freitagabend trifft sich der Schreibhain und Friends im La Provence zum gemeinsamen speisen, um später auf der Buchmesseparty in der Moritzbastei bis in die frühen Morgenstunden zu tanzen. Mit den Kolleginnen von der Litmedia-Agency, der einzigen mir bekannten Literaturagentur, die im Gesamt-Team Harry Potter cosplayed, kein Problem. Allerdings müssen wir zunächst in die Katakomben hinabsteigen, um endlich die wahre Party in der Party zu entdecken.

Es muss dem Buchmesseflow zu verdanken sein, dass ich mit nur wenigen Stunden Schlaf und Endorphinen im Blut pünktlich zur Eröffnung der Leipziger Autorenrunde eintreffe. Ein Branchenereignis, das Leander Wattig einst ins Leben rief und das – dank seinem Engagement, der Unterstützung der Buchmesse und der Sponsoren – zu einem festen und nicht mehr wegzudenkenden Ereignis des Bücherjahres geworden ist. Ich bin dankbar meinen Teil dazu beitragen zu dürfen: Mit der wunderbaren Eva-Maria Fahmüller (Dramaturgin und Leiterin der Master School Drehbuch, außerdem Vorstand von VeDRA) leite ich eine Tischrunde zum Thema: Die Welt der Geschichte. Es ist uns ein Anliegen, dieses oftmals stiefmütterlich behandelte Gebiet zu beleuchten. Denn nicht nur aus den Figuren oder dem Plot heraus lässt sich eine Erzählung entspinnen, oft ergibt sich auch aus der Welt – die mehr ist als Hintergrund und Folie, auf der die Handlung abläuft – eine zündende Idee. Neben theoretischen Impulsen arbeiten wir auch praktisch. Auf unserem Tisch liegen Bilder, auf denen ein Ort visualisiert ist (eine Tankstelle, Frankfurt am Main, eine Tanzbar der zwanziger Jahre)  und solche mit Symbolen, die für Tonalitäten stehen (Herzen für die Lovestory, ein Einhorn mit buntem Schweif für die Fantasy, Theatermasken für das dramatische Moment, u.v.a.m.). Es ist nun die Aufgabe der Teilnehmer*innen Ideen, aus diesen Welten heraus, zu entwickeln. Wir arbeiten in Kleingruppen und hoffen darauf, dass sich so erste Bande zwischen den Autor*innen entspinnen und Netzwerke geknüpft werden.

Jan Drees oder Dichtung und Wahrheit

Wie schon letztes Jahr besuche ich auch die Runden der Kolleg*innen. Es zieht mich an den Tisch von Jan Drees, der über die Entstehung seines Romans „Sandbergs Liebe“ referiert, sein Thema: Dichtung und Wahrheit. Er spricht über die Funktionen von Erinnerung, auch über das Vergessen, dem er eine einfache Übung entgegenhält: das tägliche Notieren. Ich erinnere mich, etwas Ähnliches bei Hanns-Josef Ortheil gelesen zu haben: Das Schreiben als Anschreiben gegen das Vergessen, als Vergewisserung, dass sich ein Ereignis tatsächlich zugetragen hat, als Möglichkeit, die Welt im Schreiben mit Bedeutung aufzuladen. Ortheil spricht, so ich mich recht erinnere, von einer Notwendigkeit des Schreibens – erst das Festhalten inmitten des Stroms der Ereignisse, im Notieren also, rettet das Erleben davor, ins Vergessen zu sinken. Drees rät zur Methode Arno Schmidt, spricht von Zettelkästen oder alternativ schlicht von Notizbüchern. Letztere wuchern bei mir, ohne, dass ich in ihnen fündig würde, die Schrift purzelt aus ihnen heraus, an Stellen, die ich nicht suche. Da scheinen die Zettelkästen eine echte Alternative. Auch von nächtlichen Träumen spricht Drees. Aus dem Unterbewussten gespeist, wären sie schon bald vergessen, würden wir sie nicht – kurz nach dem Erwachen – festhalten. Es ginge beim autofiktionalen Schreiben vor allem darum, immerfort Material zu produzieren, in langweiligen Sitzungen, beim Warten auf den Zahnarzttermin, während einer Bahnfahrt – auf dass ein Archiv entstünde.

Uwe Timm, sagt Drees, habe Schubladen für Materialien gehabt und dieses darin sortiert und gesammelt. Timm habe erst angefangen zu schreiben, wenn er begonnen habe, von seinen Figuren zu träumen, wenn sie ihn in Besitz genommen hätten.

Drees rät nicht alles „gleich rauszulassen“, nicht alle Gedanken sofort Facebook und Co anheim zu geben, sie stattdessen wachsen zu lassen, und – das scheint mir wesentlich –  um seine eigene Dunkelheit zu wissen, ihr nicht auszuweichen, gerade dorthin sich vorzuwagen, wo es am meisten schmerzt, um dann – radikal und ehrlich – darüber zu schreiben. Ob dieses Ich ein Konstruiertes sei oder nicht, spiele fortan keine Rolle mehr. Denn der Schmerz sei etwas zutiefst Menschliches und Überpersönliches, der aber im Subjektiven wurzele.

Wie sein Roman sich lesen lasse, dazu sagt Drees: Es seien stets Paratexte entstanden. In seinem Blog habe er Persönliches aus seiner Beziehung literarisch überhöht verarbeitet, in einem Feature, das gemeinsam mit dem Bayrischen Rundfunk entstanden sei, habe er über dasselbe Thema aus einer anderen Perspektive, einem fremden Blickwinkel geschrieben. So funktioniere dieser Zaubertrick: Die Dinge der Welt und ihre Betrachtungen flössen ineinander, was sich ursprünglich auf was bezogen habe, was tatsächlich so geschehen wäre, sei irgendwann nicht mehr die Frage. Das bestmögliche Versteck vor dem Ich sei eben das Ich, hier vermute man stets Verfremdung.  Von weit höherem Interesse sei die Wahrheit des Lesers bzw. der Leserin. Jeder gleiche die Erzählung mit seiner eigenen, inneren ab, fände Überschneidungen und Interpretationen, und so wisse ein Buch immer mehr als sein Autor.

Danach gefragt, wie er Traumatisches niederschreibe, antwortet Drees, „umso schrecklicher etwas ist, umso sachter muss es daherkommen.“ Auch er erzähle schließlich seine Version der Geschichte.