Anknüpfend an die ersten 24 Stunden verlief auch der nächste Tag des 40. Bachmannpreises spannend. Nachdem Julia Wolf, Jan Snela und Isabelle Lehn schon einen vielversprechenden und heiß diskutierten Anfang hinlegten, lasen am Nachmittag Sylvie Schenk und Tomer Gardi. Vor allem letzterer hinterließ einen ganz besonderen Eindruck bei mir.
Aufgewachsen in einem Kibbuz in Israel, unterschied sich Tomer Gardi schon mit seinem Videoporträt von den anderen Autoren im Wettbewerb – er sagte: Nichts. Zumindest keinen Ton. Seine Sprachlosigkeit im Video erhöhte meine Spannung im Vorhinein sehr, da ich zuvor nur ein Youtube-Video aus dem Jahr 2013 über seine erste Buchveröffentlichung Stein, Papier fand, in dem er jedoch nur Englisch und Hebräisch spricht. Allerdings wurde im Video gesagt, er würde Deutsch sehr gut verstehen, hätte sogar einige Zeit in Berlin gelebt. In dem Buch geht es ihm übrigens genau darum: Eine Sprache zu finden, die Mauer des Schweigens über seine Landesgeschichte zu brechen.
Nun, da Tomer Gardi strahlend ins Studio trat und das Videoporträt mit den Gästen zusammen ansah, musste ich schmunzeln. Das Schmunzeln wurde breiter, als er in aller Gelassenheit und sehr melodisch begann zu lesen: Eine ungewöhnliche und skurrile Erzählung, in einer für den Bachmannpreis bisher ungewöhnlichen Sprache, in gebrochenem Deutsch. Ein Text zunächst darüber, wie der Erzähler und seine Mutter am Flughafen stehen und ganz selbstverständlich zwei fremde Koffer vom Band greifen, weil die eigenen weg sind. Die enthaltenen Klamotten passen ihnen nicht. Sie ziehen sie trotzdem irgendwie an.
Dann ein Wandel innerhalb des Textes. Es wird ernst, geht um den Mythos Babylon, eine Einheitssprache, um Muttersprachen und deren Verlust. Um Gardis scheinbar großes Thema, die von Erinnerung erfüllte Gegenwart und die Wahrheit. Form und Inhalt entsprechen sich: „Hier, Sohn. Ich hau ab. Ich verlasse mich auf. Dir. Dich. Und dann der Akkusativ kommt.“ Natürlich trat er so bei der Jury eine bereits bekannte Diskussion los; über die Bewertung von Texten, deren Autoren nicht mit der Muttersprache Deutsch aufgewachsen sind. Die formalen Fragen werden zu politischen Fragen, oder wie Keller es zusammenfasste: „Wem gehört Deutsch? Allen, auch mir, ich kann auch Bachmannpreis!“ An dieser Stelle aber, endlich(!), Tomer Gardis wieder schmunzelnder Zwischenruf: „Ich kann Deutsch, ziemlich gut!“ Mein Rätselraten um seine Sprache fand ein Ende. Er hat das gebrochene Deutsch ganz bewusst gewählt, eine Kunstsprache, voller Energie.
Jetzt bleibt nur die Frage, wo er die verrückten Hemden findet, in denen man ihn stets sieht (selbst in seiner Erzählung entscheidet er sich für „eine offene, weisse Hemd, mit grosse, rotte Blumen“). Auch aus fremden Koffern? In Juri Steiners treffenden Worten: „Ein Text von charmanter Schamlosigkeit“ von Tomer Gardis ebendieser Präsenz untermauert.
Sarah J. Langner (Universität Duisburg-Essen, Germanistik)