Ist die Literaturkritik in der Krise? Und wohin wandert die literarische Öffentlichkeit?

Die Podiumsdiskussion ist am frühen Nachmittag des Messe-Donnerstags gut besucht. Die Vortragenden könnte man als hochkarätig bezeichnen: Andreas Platthaus (F.A.Z.) leitet die Diskussion, ob eine klassische Literaturkritik noch gebraucht wird, oder ob die Zukunft doch sowieso wieder im Netz liegt, wo Blogger die Arbeit von Literaturkritikern übernehmen.

Die Runde besteht aus Sieglinde Geisel, die mit ihrem digitalen Salon tell, einem Online-Literaturmagazin von Literaturkritikern und Bloggern,  pünktlich zum Start der Leipziger Buchmesse online gegangen ist. Das Magazin soll eine zentrale Anlaufstelle für Literatur im Netz werden- Feuilletonkritik und Literaturblog sollen sich hier begegnen. Hervorgegangen ist das Magazin aus einer Literaturkritik-Debatte, die auf Perlentaucher stattgefunden hat. Dies führt zum zweiten Gast Thierry Chervel, Mitbegründer des Perlentauchers, einem der bekanntesten Kultur- und Literaturmagazine im deutschsprachigen Internet. Veröffentlicht werden täglich unter anderem eine Feuilletonrundschau, ein Medienticker und eine Bücherschau. Außerdem dabei waren Ijoma Mangold, Ressortchef Literatur der ZEIT, Doris Plöschberger, Lektorin für deutschsprachige Literatur im Suhrkamp Verlag, sowie die aus San Francisco angereiste Vendela Vida, Herausgeberin des The Believer.

 

Begrenzte Aufmerksamkeit des Lesers

Fakt ist, so Mangold, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Leser begrenzt ist. Besonders viel Aufmerksamkeit schenke der Leser Medien, die er kenne und denen er vertraue. Lange war die kulturelle Öffentlichkeit von einzelnen Zeitungen und Zeitschriften und ihren Literaturkritiken geprägt. Zunehmend führe der Medienwandel  zu einer Konzentration auf ähnliche Themen, Normen und Bücher, sodass eine Erweiterung der Literaturkritik ins digitale unausweichlich sei, so Mangold. Hier setzt auch Chervel an, der beklagt, dass sich die Zahl der Kritiken in großen Zeitungen wie der F.A.Z oder der ZEIT seit Anfang der 2000er Jahre halbiert habe. Wie also Literaturkritiken sinnvoll vermarkten?

 

Paywall als Gordischer Knoten

Sieglinde Geisel sieht die Frage um die Paywall eher schwierig an- für ihr Online-Literaturmagazin tell würde sie gerne darauf verzichten. Potenzial sieht sie vor allem in amerikanischen Non-Profit Modellen wie den Fund Raising Lösungen oder Gegenleistungsmodellen. Probleme, engagierte Blogger oder Kritiker für ihr Magazin zu finden, sieht sie keine: „Das Gute findet uns.“ sagt sie und bezieht sich dabei auf die Autorin der F.A.Z Kolumne „E-Lektüren“ von Elke Heinemann, die aus eigenem Interesse auf Geisel zuging, um auf tell mitzuwirken.

 

Je mehr desto besser

Wie wird das Thema Literaturkritiken im Publikumsverlag angegangen? Doris Plöschberger erzählt, dass es einen Mitarbeiter im Verlag gibt, der für die Auswahl der Blogger verantwortlich sei. Mit etwa 500 Bloggern stehe man in Kontakt, die etwa 30 bis 50 Bücher in der Woche anfordern. Zwar gibt es ein Kontaktformular, in das sich interessierte Blogger eintragen können, aber schließlich müssen Informationen gezielt gestreut und Themen an Blogger vergeben werden. Wie sich die Conversion Rate und der Traffic der eigenen Homepage zur Anzahl der Kritiken von Bloggern verhalten werde jedoch nicht gemessen- der technische Aufwand sei zu hoch. Dabei könnten gerade hier Vermarktungspotenziale aufgedeckt und mit Online-Tools wie Google Analytics schnell relevante Daten greifbar gemacht werden.

 

Schlussendlich machen Blogs die Literatur demokratischer, während bei einer klassischen Kritik eher weniger subjektive Empfindungen mit einfließen könnten, so Vida und Tell im Verlauf der Diskussion. Viele Leser holen sich heutzutage ihre Medieninspiration aus der grauen Intelligenz Facebooks, so Mangold. Fest steht also, dass die Literaturkritik nicht in einer Krise steckt, auch wenn die Zeitungskrise oder digitaler Kapitalismus den Anschein erwecken. Vielmehr gründet sich der Ursprung  der Literaturkritik auf der Urteilskraft von (Fach-)Leuten, ihrem stilistischen Können und ihrem Vermögen, aus der Titelflut die „Meisterleistungen“ herauszufischen, die vielleicht nicht dem Mainstream entsprechen müssen.

Nadine Weichert und Claire Briatore