Die Buchmesse ist Treffpunkt für Autoren, Verleger, Leser – und diejenigen, die Literatur vorstellen und bewerten. Aber mit der Digitalisierung ändern sich nicht nur die Gestalt von Büchern und das Leseverhalten, sondern ebenso die Rezension von Literatur. Wie also sieht Literaturkritik heute aus? Zwei Blogger und TV-Literaturkritiker Denis Scheck erzählen über ihre Art, Bücher vorzustellen.
Die klassische Buchbesprechung im Feuilleton deckt inzwischen lediglich einen Bruchteil der Literaturkritik ab. Heute spielen visuelle Formen der Besprechung wie TV-Literatursendungen oder YouTube-Videos von Hobbyrezensenten eine wichtige Rolle. Auch werden Rezensionen längst nicht mehr ausschließlich von professionellen Kritikern verfasst; dank des Internets kann jeder Leser selbst Bücher besprechen, sei es auf Amazon oder in einem eigenen Blog.
Vom Stapel ungelesener Bücher zum Blog
Beruflich ist Tilman Winterling nicht in der Buchbranche zu Hause. Er hat Jura studiert, ist im Moment Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter. In seinem Bücherregal zählte der leidenschaftliche Leser vor einem Jahr noch 54 ungelesene Bücher, vornehmlich Klassiker. Als Ansporn diesen Stapel ungelesener Bücher abzubauen, begann er den Blog www.54books.de zu schreiben, rezensiert dort jede Woche neben Klassikern auch anspruchsvolle moderne Literatur. Die 54 Bücher hat er allerdings noch nicht gelesen, zu oft stößt er auf neue Titel: in Literaturverweisen, über Freunde, in Buchhandlungen oder durch Empfehlungen über seinen Blog. Mit „54books“ hofft Tilman Winterling Leser mit gleichen Interessen anzusprechen; literaturferne Menschen glaubt er nicht erreichen zu können. Insbesondere für die Genres Jugendbuch, Fantasy und Krimi seien Blogs jedoch eine gute Plattform, die oft vor dem Buchkauf konsultiert werden. Den großen Vorteil von Blogs sieht er darin, dass sie Berührungsängste mit der Literatur abbauen, denn im Gegensatz zur Besprechung im Feuilleton seien Blogs frei zugänglich, es müsse nicht erst eine Zeitung gekauft werden. Trotzdem glaubt Winterling nicht an ein Aussterben der klassischen Feuilletonkritik. Für den Rezensenten bedeute eine Besprechung in einer Zeitung eine höhere Reputation als eine Besprechung in einem Blog. Letzterer biete hingegen mehr Freiheit bei der Titelauswahl und der Meinungsäußerung.
Für die Zukunft von „54books“ hofft Tilman Winterling genug Zeit zu haben, um in gleicher Häufigkeit zu rezensieren, mehr Bücher zu lesen und beim Schreiben von Besprechungen weiter dazuzulernen. Seine Buchempfehlung ist ein Klassiker der deutschen Literatur: Erich Kästners „Fabian“.
Ein Videoblog als literarischer Eskortservice
Eine spezielle Art des Bloggens stellt der Videoblog dar, in dem nicht nur die Buchbesprechung, sondern ebenso der Rezensent im Fokus steht. Das Gesicht des Videoblogs „Herbert liest! Dein literarischer Eskortservice“ (www.herbertliest.de) ist Dr. Herbert Grieshop, Leiter des Center for International Cooperation an der Freien Universität Berlin. Für den studierten Literaturwissenschaftler ist der Blog eine Rückkehr zu seiner ersten großen Liebe: der Literatur. Die Idee für „Herbert liest!“ kam allerdings von der Fernsehredakteurin Sonja Praxl, die ebenfalls die Regie bei dem Videoblog führt. Jeden Monat gibt es eine neue Folge, die jeweils in einer anderen Wohnung gedreht wird; gerade der Blick in ein fremdes Bücherregal bietet einen zusätzlichen Reiz. Herbert Grieshop stellt nur Titel vor, die ihm gefallen: neben aktuellen Romanen auch ältere Lieblingsbücher, Übersetzungen ebenso wie Romane deutschsprachiger Autoren. Er möchte Bücher so empfehlen, wie man sie bei einem Abendessen mit guten Freunden empfohlen bekommt. Gerade durch das Visuelle eines Videoblogs erreiche man die Leser emotionaler; die Beziehung zwischen Blogger und Leser sei so viel direkter. Grieshop nutzt dies, um mit seinem Enthusiasmus „gute Bücher unters Volk zu bringen“. Zudem bestätigt er, dass die Hemmschwelle einen Blog zu lesen oder anzusehen geringer sei als ein Feuilleton zu lesen. Das Ziel von „Herbert liest!“ sei es daher, neben dem eigenen Spaß am Videobloggen, solche Hemmungen abzubauen – jedoch ohne das Niveau zu senken. An den Tod der Feuilletonkritik glaubt auch er nicht, vielmehr schätzt er Literaturblogs als gute Ergänzung zur professionellen Literaturkritik. Den Vorteil der Hobbyrezensenten sieht er in der geringeren Überreizung als bei Berufskritikern. Zudem schreiben professionelle Kritiker eher für die Literaturbranche, Hobbyrezensenten für die gemeinen Leser.
Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, eine TV-Sendung zu machen, meint Grieshop, er würde nicht nein sagen, käme eine Anfrage. Zunächst stehen jedoch Überlegungen an, „Herbert liest!“ in eine größere Plattform einzubinden. Herbert Grieshop empfiehlt einen Roman, der durch seine besondere Beobachtungsgabe besticht: „Die Frau des Botschafters“ von Stefan Moster.
Der Streiter für das Gute, Schöne, Wahre
Auch er zeigt Gesicht bei seinen Buchvorstellungen: Denis Scheck, Moderator des ARD-Literaturmagazins „Druckfrisch“. Mit der Literaturbranche ist Scheck bestens vertraut, ist er doch als Literaturagent, Übersetzer, Herausgeber und freier Kritiker tätig. „Druckfrisch“ wird zehn Mal im Jahr ausgestrahlt, beginnt mit einer ausführlichen Buchvorstellung, es folgen zwei Autoreninterviews und eine kurze, zuweilen spitzzüngige Kritik der aktuellen Top-Ten-Titel der „Spiegel“-Bestsellerliste. Scheck möchte vor allem Bücher empfehlen, die einen die Welt nach der Lektüre anders sehen lassen, als man sie vorher sah. Auf Titel stößt er vorwiegend durch Mundpropaganda, seien es Empfehlungen anderer Kritiker, Lektoren, die nicht verlagseigene Titel vorschlagen oder insbesondere Hinweise literarischer Übersetzer. Sein Ziel sei es, die Literatur aus dem Elfenbeinturm herauszuholen und ihr zu einem Platz im alltäglichen Leben zu verhelfen. Eine Zielgruppe seiner Sendung möchte er nicht definieren; im Idealfall seien seine Zuschauer jedoch etwas intelligenter als er selbst, das sei eine Herausforderung für ihn. Als das wichtigste Gebot der Literaturkritik nennt Scheck: „Du sollst nicht langweilen!“ Ein Format, das kurzweilig und überraschend sei, könne viele Leser erreichen. Dies gelte sowohl für einen Berufskritiker als auch für Hobbyrezensenten, deren Blogs er als Ergänzung der professionellen Kritik ansieht. Für ein Literaturformat in einem optischen Medium spielen zudem ästhetische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle. Die visuelle Gestaltung trage nicht zuletzt zur Unverwechselbarkeit eines TV-Formats wie „Druckfrisch“ bei.
Ein Format würde Dennis Scheck jedoch gerne einmal ausprobieren: die Literaturkritik in der Schwerelosigkeit. Bis sich dieser Traum erfüllt, empfiehlt er ganz erdverbunden die Graphic Novel „Kiesgrubennacht“ von Volker Reiche.
Literatur für alle
Literaturkritik hat durch das Internet eine Demokratisierung erlebt und ist so vielfältig wie nie zuvor. Literaturblogs haben die klassische Feuilletonkritik ergänzt, aber nicht ersetzt. Ein nicht zu unterschätzender Verdienst der Blogs ist der Abbau von Berührungsängsten mit der Literatur. Und was kann der Literatur schließlich besseres widerfahren als Rezensenten, die mit ihrer Begeisterung anstecken?
Dominique Conrad