In ihrer gepunkteten Bluse, der zu großen Brille und dem kurzen Bobschnitt wirkte die Autorin mädchenhaft und beinahe kindlich, als sie an diesem Nachmittag die Bühne im ORF-Studio betrat. Dort trug sie eine Passage aus ihrem noch unfertigen Roman „Scherben schlucken“ vor. Wie in ihren Kurzgeschichten, die Anfang des Jahres gesammelt im Czernin Verlag erschienen, ist es auch in diesem Text vor allem die Weiblichkeit in ihren zahlreichen Facetten, für die sich die Wahl-Wienerin interessiert. In der Passage aus „Scherben schlucken“ legt sie den Fokus passend zu ihrer Garderobe und der hellen Stimme auf das Kindsein, das auch im Erwachsenenalter nicht aufhört. Vor allem dann nicht, wenn diese Kindheit geprägt ist von unerfüllten Wünschen, mangelnder Mütterlichkeit und männlicher Gewalt.
Der Leser folgt der Protagonistin Nora, die gleich mit zwei Konflikten zu kämpfen hat: zum einen ist da eine zeitlich ungünstige Schwangerschaft, da der Erzeuger des Ungeborenen weder ein zahlender, noch ein liebender Vater sein will; zum anderen ist da die im Sterben liegende Mutter, deren Tod sie herbei sehnt. Die innere Welt Noras spiegelt sich in den Dingen, die sie akribisch beobachtet. Auf einem Spielplatz wird sie zum Zaungast und sieht zu, wie die Mütter sich in einer Art und Weise um ihren Nachwuchs kümmern, die sie selbst so nie erlebt hat. Muttergefühle hegt sie nur für ihre Nachbarin, vor deren Tod sie Angst hat. Dies sind nur zwei Beispiele für die Vielschichtigkeit des Textes. Doch der wahre Gehalt findet sich bei Kegele wie gewohnt vor allem zwischen den Zeilen und deshalb ist der Leser gezwungen, sich sein Puzzle aus lediglich angedeuteten Romanfiguren und Handlungssträngen selbst zusammenzusetzen.
Dies stieß nicht bei allen Juroren des Bachmann-Preises auf Zustimmung und führte zu einer hitzigen Debatte. Meike Feßmann lobte zwar den Versuch, den inneren Konflikt der Protagonistin auf die Sprache zu übertragen, empfand diesen aber als „literarisch nicht geglückt“. Hildegard E. Keller schloss sich dem an. Gut gemeinte Worte hatte sie zwar für Kegeles Konzept und das gekonnte Spiel mit Nähe und Distanz übrig, doch sah sie für sich keine Chance, die Puzzleteile zusammenzufügen. Gar nicht zu überzeugen war Hubert Winkels, der in „Scherben schlucken“ nur den „Versuch der Sinngebung des Sinnlosen“ sah. Dies begründete er mit der mangelnden Konsistenz der Textpassage und kam zu dem Schluss, dass es sich dabei um ein „Spurenlesen im Ungefähren“ handelte.
Doch Debatten leben glücklicher Weise von Kontroversen und so konnte Nadine Kegele Daniela Strigl und Burkhard Spinnen für sich gewinnen. Anders als Meike Feßmann und Hubert Winkler empfand Strigl es nicht als schwierig, das Geheimnis des Textes zu lüften und die fragmentarische Schreibweise als angemessen. Gerade in dieser sah sie die Besonderheit des Textes. So könne die Schwere, die in den detailreichen Beobachtungen der Protagonistin liegt, in Balance gebracht werden. Burkhard Spinnen teilte diese Auffassung und war der Meinung, dass die seelische Beschädigung Noras sprachlich sehr gut umgesetzt wurde. Er sei sogar „verliebt in den Text“, wenn auch unglücklich. Spinnen Merkte aber auch an, dass es Mut erfordere, sich mit „Scherben schlucken“ auseinander zu setzen.
Fest steht, dass der Leser Arbeit mit diesem Text hat. „Scherben schlucken“ ist keine leichte Lektüre, auf die man sich erst einlassen muss. Hat man dies geschafft, wird der Text aber im Gedächtnis bleiben. Auf den fertigen Roman darf man gespannt sein.
Katharina Kirchner