Ich solle mir eine Karte aussuchen, sagt ein mittelalter Mann im fröhlich geblümtem Hemd auf Französisch zu mir. Ein kleiner Tisch voll Miniaturkarten steht zwischen uns an einer der vielen Ecken des lichten Gastland-Pavillons. Ich suche mir ein Kärtchen aus. „Stellen Sie mir eine Frage dazu“, fordert mich der Mann auf und sieht mich mit neugierigen Augen an. Und so verdutzt ich im ersten Moment bin – es entspinnt sich sogleich ein Gespräch, an dessen Ende der Mann recht unvermittelt fragt: „Wenn Ihr Leben ein Roman wäre, was für ein Roman wäre es dann?“ Der Mann ist Teil eines Künstlerkollektivs, welches das diesjährige Gastlandteam nach Frankfurt geholt hat. „Francfort en français“ ist das Motto der Franzosen, die nicht allein die französische Buchbranche und ihre aktuellen Stars, sondern die französische Sprache und die Frankophonie ins Zentrum ihres Auftritts stellten.

Schon auf dem Gang vor dem Pavillon kündigt sich der Ehrengast Frankreich durch intensiven Muschelgeruch an. Die Brasserie „Apostroph(e)“ lädt die betuchteren Messebesucher*innen dazu ein, die französische Gastronomie neu zu entdecken. Links und rechts davon geleiten Rolltreppen nach oben. Vorbei an einer kleinen Buchhandlung mit deutsch-französischer Literatur, die eine taffe Buchhändlerin mit bunt tätowierten Armen in Ordnung hält, führen zwei Türen in den lichten Pavillon. In sonnigen Gelb- und Orangetönen gehalten und durch ein Labyrinth schlichter heller Holzregale strukturiert, verströmt er eine offene, warme Atmosphäre. Die Besucher*innen erwartet eine Mischung aus Bibliothek und digital avanciertem Kulturzentrum, aus literarisch-künstlerischem Aktions- und gesellschaftspolitischem Debattenraum. Ob jung oder alt, bastelwütig, technikaffin oder einfach literaturinteressiert – ein riesiges Spektrum an parallel stattfindenden Angeboten versucht für jede*n etwas bereitzustellen. Wer eine Verschnaufpause braucht, kann sich an Kaffeehaustischen neben der großen Bühne niederlassen und sich mit belegten Baguettes, rosa Macarons und Kaffee stärken.

Auf der großen Bühne stellen die ganz Großen ihre aktuellen Bücher vor und diskutieren miteinander über die aktuelle Lage Europas. Parallel dazu gestalten Studierende der École Estienne die große Glasfassade mit Kalligrafien. Verschiedene Ausstellungen geben Einblicke in die französische Verlagsgeschichte, die Bandbreite des frankophonen Comics und zeitgenössische französische Illustrationskunst. Dazwischen sprechen Comic-Künstler*innen und Kinderbuchautor*innen auf einer kleinen Bühne über ihre Arbeit. Momente der Ruhe im Gewusel verspricht die Installation „Walden“ in der Mitte des Pavillons. Benannt nach dem berühmten Buch des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau, einem Aufruf, sich wieder auf die Natur zu besinnen, beamt sie die Besucher*innen in den Wald. Denn kaum setzt man Kopfhörer und VR-Brille auf, findet man sich in einem Dickicht aus Blättern, Ästen und Zweigen wieder. Fixiert man einzelne Punkte im virtuellen Raum des Waldes, beginnen die Stimmen bekannter Schauspieler*innen und Autor*innen französischsprachige Gedichte vorzutragen. Isabelle Huppert und Charles Berling, Marie Darrieussecq und Alain Mabanckou sind dabei und verleihen im je eigenen Timbre und Temperament Blaise Cendrars und Rainer Maria Rilke eine Stimme.

Auch andere Stationen entführen in neue digitale Welten. In SENS ein paar Holzregale weiter taucht man ab in eine weiße Comic-Landschaft. In L.I.R. sitzt man alleine in einer kleinen, dunklen Kammer. Aus einem Bücherregal kann man sich ein Buch aussuchen. Scannt man den Strichcode ein, startet eine Installation, die eine Passage des Buchs in filmische Bilder und Klang verwandelt.

Ganz nahe am Eingang gegenüber der Boulangerie bildet sich immer wieder eine dichte Menschentraube. Hier steht eine Replik der Gutenberg-Presse, auf der die geladenen Autor*innen während der fünf Messetage die erste Seite ihres letzten Werkes drucken – auf Französisch und Deutsch. Am Eröffnungsabend haben die Kanzlerin und der französische Präsident darauf symbolträchtig die Menschenrechte durch die Druckwalze gerollt. Als ich am Samstagnachmittag kurz vor meinem Aufbruch zum Bahnhof vorbeikomme, ist es überraschend leer. Der Moderator, ein älterer, sehr lebhafter Herr, führt dem Publikum die Presse vor, druckt Seite um Seite die Menschenrechte und verteilt sie an die umstehenden Besucher*innen. Marie N’Diaye komme ja bald, kündigt er an – und plötzlich steht die zierliche Autorin vor uns. Der Moderator führt auch ihr die einzelnen Schritte vor und fragt dann in die Runde, wer denn alles einen Druck der ersten Seite von N’Diayes neuem Roman „La cheffe. Roman d’une cuisinière“ haben wolle. Sechs Leute melden sich, immer mehr kommen hinzu. Und Marie N’Diaye, der der Rummel eher unangenehm zu sein scheint, druckt und druckt. Als sie die einzelnen Seiten abschließend signiert, hat sich längst eine quengelige, lange Schlange gebildet, und N’Diaye, deren Anspannung nun gewichen ist, überreicht freudig das Papier.

Wäre es nun nicht Zeit für meine Rückreise gewesen – ich hätte meine Erkundungstour sehr gerne fortgesetzt. Denn „Francfort en français“ hat wirklich Lust gemacht, sich wieder mehr mit der französischen Kultur und französischsprachigen Autor*innen zu beschäftigen.

Sophie Zue